Praxisfelder

Schieflagen


 

Übersteuert und überfrachtet

Was verbindet die Berufsfelder Medizin, Soziale Arbeit und Bildung? – Eine mehr oder minder große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Diese drei Handlungsfelder sind geprägt von hohen normativen Idealen: Nicht selten sind die Felder politisch übersteuert und mit Zielen und Anforderungen überfrachtet, die in der Praxis Widerstand auslösen oder zu „Etikettenschwindel“, d.h. zu einer pro-forma-Erwartungserfüllung verleiten. Und Forschung hat für Praktikerinnen und Praktiker häufig das Image eines unnützen Mehraufwands, den man entweder zu akzeptieren hat oder dem man sich konsequent entzieht.

Situationsblinde Standardisierung

Alle drei Felder haben in den letzten Jahren Standardisierungsprozesse durchlaufen. Standardisierung verspricht in hochkomplexen Arbeitsfeldern Sicherstellung von Professionalität, Handlungssicherheit und eine Rechtfertigungsgrundlage für das eigene Handeln. Alle diese Versprechen sind zweifellos attraktiv. Ob Standardisierung im Arbeitsalltag allerdings einlöst, was sie verspricht, wird zu selten hinterfragt und ist außerhalb von Pilotprojekten kaum erforscht. Erste empirische Hinweise lassen Zweifel aufkommen. Sie zeigen, dass Standardverfahren blind machen können für die tatsächlichen Herausforderungen, die der Einzelfall  und die konkrete Handlungssituation stellt.

Verfahrenstreue statt Wirkungsorientierung

Wenn das Befolgen von Standardverfahren, dazu führt, dass im Einzelfall weniger nachgedacht sondern schematisch gehandelt wird, dann ist mit Standardisierung nichts gewonnen, aber viel verloren. Dass professionelles Handeln regel- und kriteriengeleitet zu sein hat, ist unstrittig. Professionelle Standards sind aber nicht gleichzusetzen mit einer Standardisierung, welche die praktische Urteilskraft im Einzelfall – die Weisheit der Praxis – für überflüssig erklärt.

Was ist professionelles Handeln?

Anders als bei einer regelgebundenen fachlichen Tätigkeit (z.B. Ingenieur), die durch genau definierte Abläufe und standardisierte Vorgehensweisen Handlungsqualität garantieren kann, müssen im professionellen Handeln immer wieder unplanmäßige Situationen bewältigt werden, was im Umgang mit Standards eine ausgeprägte „kognitive Flexibilität“ (Feltowich et. al. 1997) verlangt, um überhaupt effektiv zu sein. Warum? Die Adressaten professionellen Handelns sind Menschen – sie haben verschiedene Biografien, eine unterschiedliche soziale und kulturelle Herkunft und befinden sich in differenten Lebenslagen und Lebensphasen. Will man als Fachperson diese Menschen erreichen bzw. angemessen behandeln, so muss man ihr Verhalten einordnen können (Fallverstehen). Aber nicht nur das: Verstehen muss man auch, was in der konkreten Situation eigentlich vor sich geht, in der man als Professioneller mit diesen Menschen kommuniziert (Interaktionsverstehen). Zwei Voraussetzungen also, um tatsächlich professionell handeln zu können.

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